Jugendliteraturpreis 2012 – Nomierungen Jugendbuch

Ob Paris im Jahr 1934, Flandern zur Zeit der Besetzung durch die Deutschen oder minderjährige Flüchtlinge der Jetztzeit, die auf Asyl in Frankreich hoffen – die nominierten Jugendbücher erzählen ergreifende und nachdenklich stimmende Geschichen von Liebe, Orientierungssuche und einem modernen Superman.

Anne-Laure Bondoux: Die Zeit der Wunder | ab 13 Jahre | 192 Seiten | Carlsen Verlag | 978-3-551-58241-6 | 12,90 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Koumaïl ist Franzose, so hat Gloria es ihm zumindest erzählt, und deshalb hofft der Zwölfjährige auf Asyl in Frankreich. Mit ihm hat die Autorin einen hinreichend naiven Helden erschaffen, der von den politischen und emotionalen Leiden von Flüchtlingen erzählt. Spannungssteigernd wirken die Rahmenhandlung und die Offensichtlichkeit der Lügengeschichte der Hauptfigur, die vorgibt, „nichts als die reine Wahrheit“ zu sagen.
Das Motiv des „Wunders“ durchzieht den Roman in der Person Koumaïls selbst, in seinem Erlebten und in der Wiederbegegnung mit Gloria. Sie erweist sich spät, aber nicht zu spät, als seine Mutter. Koumaïls angeblich französische Herkunft entpuppt sich dagegen als ihre Erfindung. Diese Lüge sollte ihrem Sohn das Leben retten.
Koumaïls Alter erlaubt eine naive Darstellung des Grauens aus dessen Sicht. So entstehen Leerstellen in den Momenten, wo der Junge nicht alles versteht, was um ihn herum geschieht. Erzählerisch stark, mit Spannung und Gefühl virtuos spielend zeigt Anne-Laure Bondoux ihren Lesern eine ihnen unbekannte Welt in aller Deutlichkeit, ohne in effekthaschende Drastik zu verfallen. Dies spiegelt Maja von Vogel in ihrer sensiblen Übersetzung wider. Mit Die Zeit der Wunder hat die Autorin ein wichtiges Thema für eine jüngere Leserschaft mit großer Liebe zum Fabulieren aufbereitet.

 

Timothée de Fombelle: Vango | ab 13 Jahre | 400 Seiten | Gerstenberg Verlag | 978-3-8369-5365-8 | 16,95 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Bereits die Eingangsszene zieht den Leser in seinen Bann: Paris im Jahr 1934, Vango steht kurz davor, seine Weihe als Priester zu empfangen. Dies ist der Anfang einer Flucht und einer Suche für Vango. Es ist der Ausgangspunkt einer mitreißenden Geschichte aus Motiven und Erzählformen des historischen Romans, der Fantasy und der Abenteuerliteratur.
In kunstvoll miteinander verwobenen Erzählsträngen mit Rückblicken auf das Leben der Protagonisten und mit der Zeichnung von schillernden und kuriosen Figuren wird ebenso Spannung erzeugt wie durch Leerstellen, Zeitsprünge und Ortswechsel.
Die fiktive Figur des Vango wird in die historische Realität der 1930er Jahre eingebettet. Die Fahrten des Luftschiffs Graf Zeppelin und dessen Kapitän Hugo Eckener beispielsweise sind historisch verbürgt. Solche Fakten verarbeitet Timothée de Fombelle ebenso wie Computerspiel- und Filmelemente. In einer für die Gattung des Abenteuerromans typischen „Bricolage“ aus neuen und aus bekannten Versatzstücken verleiht de Fombelle seiner Geschichte einen grandiosen Schwung. Vango bietet historische Spannung zum Wegschmökern in einer sprachmächtigen und äußerst gekonnten Übersetzung.

 

Kevin Brooks: iBoy | ab 14 Jahre | 300 Seiten | dtv | 978-3-423-24845-7 | 13,90 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
iBoy ist ein literarisches Gedankenspiel: Was, wenn man kein Smartphone, kein Laptop und kein Bluetooth benötigt, um sich überall einhacken zu können? Was würde man mit diesen Möglichkeiten erreichen wollen? Sich in fremde Konten einloggen und am Geld anderer bedienen? Den Klassenkameraden beim Surfen im Netz beobachten? Sich mit Fake-SMS an einem Feind rächen? Oder an den Gedanken seines Mathe-Lehrers teilhaben?

Tom ist durch einen Unfall zu einer Art Cyborg geworden: Ein iPhone zertrümmerte seine Schädeldecke und Teile der digitalen Technik verschmolzen mit seinem Gehirn. Auf die Frage nach den darin liegenden Möglichkeiten und deren Legitimität gibt der Autor keine Antworten. Vielmehr stellt er seine Leser vor wichtige philosophische Fragen und überlässt es ihnen, darüber nachzudenken. Dabei vermag Brooks es, auf wieder einmal einzigartige Weise, sich in die von ihm erfundenen Charaktere hineinzuversetzen und ihre Gedanken und Gefühle genau auszuloten. Mit iBoy hat er das bekannte Motiv des Superman auf intelligente und moralisch anspruchsvolle Weise fortgeschrieben, um zu zeigen, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Uwe-Michael Gutzschhahn hat den spannenden Roman wie immer beeindruckend übersetzt.

 

Gabi Kraslehner: Und der Himmel rot | ab 15 Jahre | 144 Seiten | Beltz & Gelberg | 978-3-407-81080-9 | 12,95 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Wer möchte schon den Namen „Darm“ tragen? Oliver, die Hauptfigur des Romans, hält seinen Namen für ein Omen, für das eines verkorksten Lebens. Der Mensch selbst ist ebenso sperrig wie sein Name und er hält seine Mitmenschen meist auf Distanz: Kurt, bei dem der elternlose Jugendliche lebt, seinen Lehrer, der sich in immer neuen Wortspielen zu den unangenehmen Assoziationen von Olivers Nachnamen gefällt. Nur Jana, in die Darm verliebt ist, und sein Freund „Muskat“ können vorsichtige Nähe zu ihm aufbauen.

In der sprachlichen Tradition österreichischer Erwachsenenliteratur, deftig und wortgewandt, erzählt Kreslehner nicht nur die besondere Liebesgeschichte zwischen Jana und Darm, sondern vor allem von den Verwicklungen und Schicksalen der eigenwilligen Protagonisten. Seine wirklich krude Familiengeschichte lässt Darm einerseits in die Provokation flüchten und andererseits in den Rückzug von den ihn umgebenden Menschen. Die Autorin liefert eine anspruchsvolle und sperrige Lektüre in einem gekonnten personalen Erzählstil, den man im Jugendbuch in dieser genau kalkulierten Form nur selten findet. Nach und nach entblättert Gabi Kreslehner förmlich die Figuren, die alle in irgendeiner Form vom Leben gezeichnet sind, und führt den Leser in einen packenden Showdown mit überraschenden Wahrheiten.

Nils Mohl: Es war einmal Indianerland | ab 16 Jahre | 352 Seiten | rotfuchs im Rowohlt Verlag | 978-3-499-21552-0 | 12,99 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Dieser Roman führt in die Tristesse der Vorstädte. Ein Hausbewohner hat seine Frau erwürgt. Später wird sich herausstellen, dass es der Vater des Ich-Erzählers war. Zur Inszenierung des Lebens in einem Hamburger Stadtteil, der von jeglicher Gentrifizierung noch unberührt ist, gehören der Freund, mit dem der Ich-Erzähler im Fitness-Studio Eisen stemmt, seine Traumfrau Jackie, die unerreichbar scheint, und Edda, die vielleicht doch die Richtigere für ihn ist. Sie ist es auch, die die Kalamitäten der Adoleszenz auf den Punkt bringt: „Du bist 17, es ist dein Recht, dich von der Welt nicht verstanden zu fühlen.“

Mohls in raffinierten Zeitsprüngen konstruierte Erzählung lebt unter anderem von dem konzisen Einsatz filmischer Gestaltungsmittel. Schnelle Schnitte, Vor- und Rückblenden – typografisch mit den Zeichen für die Vor- und Rückspultasten von DVD-Playern markiert –katapultieren den Leser immer wieder in einen anderen Kontext.
Es war einmal Indianerland ist kunstvoll gebaut, mit seinen zahlreichen, kreativen Neologismen sprachlich innovativ und überzeugend. Es bietet eine neue, aufregende Variante aus Bildungsroman und Liebesgeschichte. Nils Mohl gelingt es, anspruchsvolles literarisches Erzählen thematisch dicht bei seinen jugendlichen Lesern zu realisieren – und das mit viel Herz und Ohr für seine Adressaten.

 

Els Beerten: Als gäbe es einen Himmel | ab 16 Jahre | 624 Seiten | FJB im Fischer Verlag | 978-3-84114-2135-7 | 19,95 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Flandern zur Zeit der Besetzung durch die Deutschen: Zentrum der Geschichte ist die Familie der Geschwister Remi, Jef und Renée sowie deren Beziehung zu Ward, der mit Renée ein Paar bildet, mit Jef befreundet ist und den sich Remi, deutlich jünger als seine jugendlichen Geschwister, sehnlich zum Freund wünscht. Die Beziehungen aller zerbrechen daran, dass Ward sich von der Propaganda der Kirche leiten lässt und sich den Nationalsozialisten im Kampf gegen Russland anschließt.

Die Autorin hat die komplexen Ereignisse, Fragen, Schicksale und Gefühle dieser Zeit in eine multiperspektivische Erzählung gefasst, um mit jeder Figur und deren Erzähltext eine Facette des Lebens im Krieg zu zeichnen. Dazu verleiht sie jedem der vier Protagonisten eine eigene Stimme. Diese Krisenzeit wirft Fragen auf, wie die nach dem richtigen Verhalten in einem totalitären System oder danach, wie man mit Schuld zurechtkommen kann.
Els Beerten liefert eine anspruchsvolle Beschreibung der Orientierungslosigkeit von Jugendlichen in einer schwierigen Zeit und vermittelt dem Leser auf eindrucksvolle Weise deren Wünsche, Träume, Sehnsüchte, Ängste und Befürchtungen. Mirjam Pressler hat diesen Roman auf überzeugende Weise übersetzt.

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