Begriffe wie Systemsprenger:innen, ADHS, Depressionen, Panikattacken sowie Angst- oder Essstörungen sind uns allen mittlerweile mehr oder weniger geläufig. Doch was steckt hinter diesen Diagnosen, woher kommen sie und wie kann betroffenen Kindern und ihren Angehörigen umfassend geholfen werden? Dr. Jakob Florack – Chefarzt der Elisabeth-Klinik für seelische Gesundheit junger Menschen | Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Zehlendorf – stand uns Rede und Antwort und bringt Licht in den hochsensiblen Bereich psychischer Erkrankungen.
Vermutet man eine seelische Erkrankung beim eigenen Kind, fühlen sich Eltern oft hilflos. Aber es gibt Hilfeangebote und Anlaufstellen.
Wenn Kinder und Jugendliche Hilfe bei seelischen Erkrankungen benötigen, ist die Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) erste Anlaufstelle.
Therapeut:innen, die eine Genehmigung einer Kassenärztlichen Vereinigung besitzen, sind befugt und verpflichtet, psychotherapeutische Sprechstunden anzubieten. Diese ermöglichen einen niedrigschwelligen Zugang zur ambulanten Versorgung.
Hier soll frühzeitig festgestellt werden, ob ein Verdacht auf eine seelische Krankheit vorliegt und weitere fachliche Hilfe notwendig wird. Versicherte können sich direkt an Therapeut:innen oder an die Terminservicestelle (TSS) der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung wenden: rund um die Uhr unter der bundesweiten Telefonnummer 116117 sowie zusätzlich auch über die Internetseite 116117.de
Interview mit Dr. Jakob Florack
Schon vor mehr als zwanzig Jahren wurde im St. Joseph Krankenhaus in Tempelhof der Vorgänger der Elisabeth-Klinik etabliert. Im Juni 2024 konnte der Fachbereich in einem Neubau einen zweiten Klinikstandort in Zehlendorf an der Potsdamer Chaussee unter der Leitung von Dr. Jakob Florack eröffnen.
Seit Herbst 2023 hat Dr. Jakob Florack die Leitung der Elisabeth-Klinik unter dem Dach des St. Joseph-Krankenhauses übernommen. Zuvor war er in der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung des Vivantes Klinikum Friedrichshain als Oberarzt tätig. In diesem Rahmen entwickelte er auch ein Behandlungskonzept für videospiel- und internetabhängige Jugendliche. Seine Spezialgebiete liegen in der Verhaltenstherapie, der Dialektisch Behavioralen Therapie für Adoleszente sowie in der Entwicklungspsychologischen Beratung und Therapie für Familien.
Wie hoch ist der Anteil von Kinder und Jugendlichen mit psychischen Störungen in Deutschland und was sind die häufigsten Diagnosen?
Die Schätzungen zum Anteil psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher schwankt je nach Studie und deren Methodik. Einigkeit herrscht in der Einschätzung, dass der Anteil seit 2010 steigend ist und in etwa bei zehn bis 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen liegt.
Dabei stieg zuletzt insbesondere die Häufigkeit von Angsterkrankungen und Depressionen, welche gleichzeitig die häufigsten psychischen Erkrankungen sind. Darauf folgen Aufmerksamkeitsstörungen (ADHS), Ess- und Zwangsstörungen.
Soweit sich das vergleichen lässt: Gibt es ähnliche Entwicklungen auch in anderen Ländern?
Vor einigen Wochen wurde ein in Fachkreisen viel beachteter Artikel in The Lancet Psychiatry publiziert, in dem sich eine Expert:innenkommission besorgt über die steigende Anzahl psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher äußerte. Zahlen aus Deutschland flossen in die im Artikel vorgenommene Auswertung jedoch nicht ein, da zu wenige Studienergebnisse dazu vorliegen.
Der US-Psychologe Jonathan Haidt beschreibt in seinem 2024 veröffentlichten Buch „Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“* eine Verdopplung der Angst und Depressionserkrankungen bei jungen Menschen in den USA und bringt diese in einen engen Zusammenhang mit der Nutzung von Smartphones.
Zwar werden sowohl die recht einseitige Zuschreibung der Ursache als auch die Methodik kritisiert, dennoch stimmt die Tendenz zweifelsohne.
Welche Auswirkungen der Corona-Pandemie lassen sich aktuell beobachten und mit welchen Spätfolgen ist noch zu rechnen?
Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Lockdown-Bedingungen, die auch schon während der Pandemie durch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) kritisiert wurden, waren ein unvergleichbarer Einschnitt in das Leben von Kindern und Jugendlichen.
In dieser Zeit haben psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen, dabei ist insbesondere die Magersucht zu nennen, die Familien und Behandelnde vor kaum zu bewältigende Herausforderungen gestellt hat.
Die unmittelbaren Auswirkungen sind nun zurückgegangen, wir haben jedoch weiterhin mit den mittelbaren Auswirkungen zu kämpfen. Dazu gehören Defizite in sozialen Kompetenzen und Schulbildung sowie die durch die Pandemie weiter beschleunigte Zunahme von Bildschirmmediennutzung.
Alle drei genannten Auswirkungen sind ihrerseits Risikofaktoren für psychische Erkrankungen, sodass wir von einer weiteren Zunahme seelischer Störungen ausgehen müssen.
Was hat sich in den letzten Jahren im Umgang mit psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter verändert?
Wir beobachten, dass Themen wie mentale Gesundheit und der Umgang mit psychischen Erkrankungen insbesondere in jugendlichen Milieus weniger stark tabuisiert werden als das in der Vergangenheit der Fall war.
Dies trägt dazu bei, dass Behandlungsangebote weniger hochschwellig erscheinen und besser angenommen werden. Auch steigt das Verständnis für die Auswirkungen psychischer Probleme in vielen Peer-Groups, sodass Stigmatisierung und andere Sekundärfolgen seelischer Erkrankungen abnehmen.
Die andere Seite dieser Medaille ist der Trend zur Selbstdiagnose und Identifikation mit der psychischen Erkrankung. Nicht selten erleben wir, dass Jugendliche oder deren Angehörige bereits selbst eine vermeintliche ADHS- oder Autismusdiagnose gestellt haben, wenn sie zu uns kommen.
Wie zeigen sich erste Anzeichen einer sich entwickelnden Störung und woran erkennen Eltern, dass ihre Kinder professionelle Hilfe benötigen?
Bei der Betrachtung seelischer Phänomene und Krankheiten findet eine Entwicklung weg von einer kategorialen Sichtweise hin zu einer dimensionalen Beschreibung statt. Das heißt, eine Person kann zu einem gewissen Grad traurig, impulsiv, zwanghaft oder selbstverliebt sein, ohne dass diese Eigenschaft einen Krankheitswert darstellt.
Erst wenn die Intensität hoch ist und Einschränkungen im Alltag zu Tage treten, sollte von einer psychischen Erkrankung gesprochen werden. Für die Diagnosestellung sollte ein:e Kinder- und Jugendpsychiater:in oder –psychotherapeut:in aufgesucht werden.
Aber nicht alle seelischen Erkrankungen erfordern eine sofortige stationäre Behandlung. Es ist auch nicht sinnvoll, jemanden aus dem vertrauten Umfeld herauszureißen, wenn man das nicht muss. Dafür bräuchte es aber viel mehr ambulant tätige Kinder- und Jugendtherapeuth:innen.
Wie reagieren Erziehungsberechtigte angemessen auf wiederkehrende Ängste und mögliche Verhaltensauffälligkeiten?
Beim Umgang mit psychischen Erkrankungen gilt, was wir in den Sicherheitsinstruktionen vor dem Abflug lernen: Die Eltern müssen sich erst selbst mit der Sauerstoffmaske versorgen, bevor sie ihrem Kind helfen können.
Sie benötigen also die Fähigkeit, Stress und eigene Gefühle zu regulieren und Ruhe auszustrahlen, um dem Kind bei der Bewältigung von Angstsituationen oder anderen Problemen nützlich zu sein.
Der größte Fehler wäre, nicht mit den Kindern ins Gespräch zu gehen. Bereits für die Jüngsten lässt sich eine altersgerechte Sprache finden, um auch über ungewohnte Gefühle und Ausnahmesituationen zu reden.
Was sind mögliche Auslöser und Risikofaktoren? Können Eltern vorbeugend wirken und die Resilienz ihrer Kinder stärken?
Die Risikofaktoren und Auslöser für psychische Erkrankungen können biologischer und sozialer Natur sein. So trage ich ein erhöhtes Risiko in mir, an einer Depression zu erkranken, wenn ein Elternteil ebenfalls erkrankt war oder ist.
Weitere Risikofaktoren sind zwischenmenschlicher Natur. Ein invalidierender, also abwertender Umgang durch Eltern, Mitschüler:innen oder Lehrer:innen stellt einen erheblichen Belastungsfaktor da. Es gibt zum Glück auch Kompetenzen, die Kinder und Jugendliche davor schützen, eine psychische Erkrankung zu entwickeln.
Dazu gehört die Fähigkeit, Gefühle richtig zu erkennen und einen hilfreichen Umgang mit ihnen zu erlernen. Eltern können Kindern vermitteln, dass es okay ist, unterschiedliche Gefühle zu haben und sie auch auszudrücken. Unterstützung bieten Berliner Erziehungs- und Familienberatungsstellen und Vereine wie AMSOC e.V.
In unserer heutigen Gesellschaft wird implizit und explizit ein starker Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit eines Menschen und dessen Wert hergestellt. Dies kann für alle, die weniger leistungsfähig sind – zum Beispiel im Rahmen einer psychischen Erkrankung – eine große Belastung bedeuten.
Daher ist es für Eltern sehr wichtig, dem Kind das Gefühl zu vermitteln, unabhängig von Schul-, Sport- oder anderer Leistung einen unantastbaren Wert inne zu haben.
Ab wann wird Medienkonsum bedenklich, woran erkennen Eltern, dass ihre Kinder in eine Sucht rutschen?
In der neuesten JIM Studie (Jugend, Information, Medien) wird die Onlinezeit von Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren mit täglich 224 Minuten angegeben. Eine Normalisierung des Dauer-Online-Seins hat stattgefunden.
Wenn man nun alleinig die Onlinezeit als Indikator bemühte, um eine Online-Sucht festzustellen, müsste man beinahe jeden Jugendlichen behandeln, was weder erforderlich noch sinnvoll ist.
Vielmehr ist es hilfreich für Eltern, auf die zusammenhängenden Auswirkungen zu schauen. Geht mein Kind auch noch anderen Freizeitbeschäftigungen nach? Liegen Schlaf- und Ernährungsprobleme vor?
Dazu braucht es eine Gesprächsgrundlage innerhalb der Familien, die sich aufgrund der Tatsache, dass der Umgang mit Bildschirmmedien mittlerweile eine der häufigsten Ursachen für Eltern-Kind-Konflikte ist, nicht so leicht realisieren lässt.
Wichtig ist, dass Eltern sich Zeit nehmen und eine stressfreie Atmosphäre schaffen, um sich ein Bild vom Medienkonsum ihres Kindes zu machen.
Was wären sinnvolle Präventionsmaßnahmen im Bildungssystem?
Die Schule als einer der zentralen Sozialräume für Kinder und Jugendliche hat einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf von psychischen Erkrankungen.
Präventiv sollte dort über seelische Erkrankungen aufgeklärt und für den Umgang mit ihnen sensibilisiert werden. So werden etwa in Baden-Württemberg im Rahmen des PROTECT-Präventionsprojektes der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Schüler:innen mit einem hohen Risiko für die Entwicklung einer Medienabhängigkeit identifiziert, denen dann Wissen und Fertigkeiten vermittelt werden, einen gesünderen Umgang mit Bildschirmmedien zu entwickeln.