Wie wir aufwachsen, prägt uns ein Leben lang. Die Kindheit ist im Wandel, politische Umbrüche, gesellschaftliche Veränderungen, Digitalisierung – zwischen den Kinderjahren heutiger Eltern und denen ihrer Kinder liegen teilweise Welten.
Wir haben Mütter und Väter aus Ost und West befragt, was ihnen aus ihrer Kindheit am meisten in Erinnerung geblieben ist, worin sie Unterschiede zu heute erkennen, was sie ähnlich und was sie anders machen als ihre eigenen Eltern.
Kindheit im Wandel
Die meisten Eltern heutiger Grundschulkinder sind in den 1970er- und 1980er-Jahren in eine Welt vor dem Mauerfall geboren. Aber nicht nur historische Ereignisse wie die Wiedervereinigung fallen in die Zeit ihres Heranwachsens, auch Meilensteine wie die Einführung von Computern und Videospielen in Privathaushalten, das Aufkommen kommerzieller Fernsehsender und des Internets, die für einen tiefgreifenden Wandel der Medienlandschaft sorgten. Kinder wachsen heute in einer digitalisierten und globalisierten Welt auf.
Zeitgeist und Gesellschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert, aber inwieweit hat sich die Kindheit gewandelt? Wir haben sechs Eltern-Kind-Paare mit ganz individuellen Geschichten getroffen und doch gibt es Parallelen in den Kindheits-Erzählungen der Eltern und dem, was sie als Unterschiede zu heute erkennen.
Wenn wir als Erwachsene über unsere Kindheit sprechen, geht es ums Verstehen. Wer bin ich? Wo komme ich her? Welche Beziehungsmuster, Erziehungskonzepte und Konfliktlösungsstrategien wurden mir vorgelebt?
Zu welchen Eltern macht uns das selbst? Unsere Gesprächspartner:innen eint, dass sie die eigenen Kindheitserfahrungen reflektieren und beim Umgang mit ihren Kindern berücksichtigen.
Kleinere Kinder interessieren sich eher für Konkretes aus der Vergangenheit ihrer Eltern, womit diese gespielt haben, wie sie aussahen, was ihnen Spaß gemacht hat oder auch wie die Großeltern als Eltern waren. So haben wir nicht nur nach Unterschieden und Ähnlichkeiten gefragt, sondern uns auch ein paar Erinnerungsstücke mitbringen lassen.
Die Kamera stammt aus ihrer Kindheit – Kathinka (*1978) hat einige ihrer Lieblingsstücke aufgehoben, mit denen Onno (*2019) heute noch gerne spielt. Im Unterschied zu ihren eigenen Kinderjahren in einer westdeutschen Bilderbuchvorortidylle mit Ernährer-Vater, Hausfrau-Mutter, zwei Kindern, Haus mit Garten und kinderreicher Nachbarschaft, in der sie sich von Klein auf frei und entspannt bewegen konnte, ist die Dreifachmutter und Modedesignerin (Bonnie & Buttermilk) heute deutlich besorgter um ihre mitten in der Großstadt aufwachsenden Kinder.
Als jüngstes von Kathinkas drei Kindern wächst Onno mitten in Berlin in einer Patchwork-Konstellation auf. Ein Lebensmodell, das sich stark von ihrer westdeutschen Kindheit in einem Haus mit Garten, eigenem Zimmer für jedes Kind und einer Mutter, die immer zu Hause war, unterscheidet.
So wichtig die Modedesignerin Errungenschaften wie die Anerkennung diverser Familienmodelle und Gleichberechtigung findet, kommt es ihr dennoch so vor, als sei ihre Mutter damals deutlich entspannter und unbesorgter gewesen als sie, die sich von den Gefahren der Großstadt, digitaler Medien und dem Spagat zwischen Job, Kindern, Beziehung und Selbstfürsorge oft gestresst fühlt.
Mehr Zeug, weniger Freiraum
Ihre Erinnerungen decken sich mit Studienergebnissen: Früher wurde Kindern mehr zugetraut, sie konnten sich freier bewegen, heute haben Eltern mehr Ängste. Handys und Tracker eröffnen ihnen ganz andere Kontrollmöglichkeiten.
Zudem kommt es Kathinka so vor, dass Dingen in ihrer Kindheit mehr Wert beigemessen wurde, weil es weniger Überfluss gab. Onno und seine Schwester haben zwar mehr Spielsachen und organisierte Freizeitaktivitäten zur Auswahl als sie damals, aber weniger Raum. Ihre Kinderzimmer in der Altbauwohnung sind klein, vor allem aber haben sie weniger Freiräume in der Stadt.
Im Gegensatz zum Affen Fips hat es die Puppe Pauline mit den von ihrer Oma gestrickten Sachen aus Heikes (*1981) Kindheit im Ostberliner Plattenbau ins heutige Leben mit ihrem Sohn Niklas (*2014) geschafft. Während sie damals viel Freizeit und einen Haufen Freund:innen zum Rumstromern im Viertel hatte, hat Niklas dafür weniger Zeit in seinem Schulalltag. Dafür kann er Leute aus aller Welt digital zum Spielen treffen, technische Möglichkeiten, die in der Kindheit seiner Mutter Science Fiction waren.
Die Einschätzung, dass Kinder heute weniger frei aufwachsen, teilt die Ostberlinerin Heike. Die Alleinerziehende lebt mit ihrem Sohn Niklas in Köpenick, wo sie schon ihre Kindheit im Allende-Viertel verbrachte. Obwohl sie selbst ein Einzelkind und mit zwei voll berufstätigen Eltern früh ein Schlüsselkind war, war sie selten allein.
Auf den begrünten Innenhöfen und Spielplätzen des kinderreichen Plattenbauviertels war immer jemand zum Spielen zu finden. Ihre beste Freundin wohnte nebenan, in der neunten Etage der Elfgeschosser gab es einen Verbindungsgang zwischen den Blöcken, kaum Verkehr auf den Straßen – die Kinder konnten frei umherstreifen und Abenteuer erleben.
Sie erinnert sich noch gut an die letzten Jahre der DDR, als sie zur Taschengeldaufbesserung Altglas und Altpapier sammelten und zur SERO (VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung) brachten.
Weniger real, mehr digital
Wie seine Mutter wächst auch der Zehnjährige als Einzelkind auf und ist eigenständig in der Nachbarschaft unterwegs, trifft sich draußen auch real mit seinen Freund:innen. Doch sein räumlicher und zeitlicher Radius scheinen Heike enger. Die Schule beansprucht viel Zeit, die Nachmittage verbringt er wie viele seiner Altersgenoss:innen oft mit Zocken am Computer.
Von Heike gelegentlich mit Sorge betrachtet, sieht sie aber auch, welche Skills er sich dabei schon angegeignet hat. Ohne Scheu spricht er auf Englisch mit Online-Mitspieler:innen, bringt sich mit Tutorials selbst bei, wie man Filme schneidet und hat ein Know-how im Umgang mit digitalen Medien und Technik, das sie, die nahezu technikfrei aufgewachsen ist, immer wieder erstaunt.
Einen großen Unterschied zwischen ihrer eigenen und der Kindheit ihres Sohnes sieht sie darin, dass sie funktionieren musste, ohne es zu hinterfragen. Sie kann sich nicht erinnern, Erwachsenen je widersprochen zu haben, auch nicht ihrem Vater, der so viel Druck ausübte, damit sie fleißig Klavier spielte, dass er ihr die Freude daran verdarb. Auch darum versucht sie als Mutter bewusst, Niklas in Entscheidungen einzubeziehen und diese nicht über seinen Kopf hinweg zu treffen.
Neue Rollenbilder
Eine andere Eltern-Kind-Beziehung und Rollenverteilung innerhalb der Familie möchten auch Julia und Hugo leben. So unterschiedlich die beiden in Ost und West aufgewachsen sind, so ähnlich ticken die beiden in der bewussten Entscheidung für ihre Kinder und wie sie diese gleichberechtigt beim Aufwachsen begleiten möchten.
Anders als ihre Eltern, die ihre Kindheit gefühlt komplett draußen verbracht haben, sind Luca (*2018) und Marla (*2014) totale Drinnenkinder, die sich ewig mit Basteln und Malen beschäftigen können. Das Kreative haben sie von Julia (*1979). Die Illustratorin und Designerin (Matzke und Friese) ist in einer künstlerischen Familie in Potsdam aufgewachsen, während Hugo (*1976) in einem konservativen Haushalt in Friesland groß wurde. Die beiden leben bewusst ein paritätischeres Modell als das ihrer Eltern.
Beide teilen den Eindruck, dass ihre Eltern deutlich jünger in den 1970er-Jahren Kinder bekommen haben, weil es damals halt so dazugehörte. Die Kinder liefen einfach mit und vor allem frei in der Gegend herum, ohne dass sich die Eltern einen allzu großen Kopf darüber machten.
In beiden Herkunftsfamilien spielte der Vater eine andere Rolle als Hugo im Leben von Marla und Luca. Aufgewachsen mit einem oft abwesenden Vater, der zur See fuhr, ist es ihm wichtig, auch im Alltag präsent und nah dran an seinen Kindern zu sein, ihnen Entscheidungen und die Welt verständlich zu machen.
Er musste erst lernen, Kinder mit einzubeziehen, etwa sie beim Kochen mithelfen zu lassen, kannte er das aus seiner Kindheit mit klaren Rollen und Regeln doch ganz anders. Hugo ertappt sich gelegentlich dabei, wie er Sprüche seiner Eltern beispielsweise zu Benimmregeln am Tisch reproduziert.
Auch aufs „ordentliche“ Aussehen wurde damals mehr geachtet, Marla und Luca haben hingegen schon früh ihren eigenen Kleidungsgeschmack entwickelt. Was den Umgang mit digitalen Medien betrifft, wissen Julia und er, dass sie es vergleichsweise leicht haben, denn ihre Töchter fordern noch gar keine Bildschirmzeit ein.
Im Gegensatz zu ihren Eltern, die ihre Kindheit größtenteils draußen verbracht haben, müssen Marla und Luca dazu angeschubst werden, rauszugehen. Die beiden brauchen eigentlich nichts anderes als Bügelperlen, Bastel- und Malsachen, um sich den ganzen Tag zu beschäftigen.
Was Julia an ihre Kindheit voller Kriegsangst an der Glienicker Brücke in Sichtweite der russischen Kasernen erinnert, sind Gespräche mit ihren Töchtern über Klimakrise, Flucht und Krieg. Insbesondere Marla, die geflüchtete Kinder kennt, treiben Ängste um, was passiert, wenn die Familie fliehen oder Hugo in den Krieg ziehen müsste.
Er erinnert sich daran, wie sein Vater 1987 mit Geigerzähler durch den Garten lief, als radioaktive Wolken über Friesland zogen. So lassen sich aktuell wieder Parallelen zu einer Kindheit im Kalten Krieg, mit Tschernobyl-GAU und düsteren Zukunftsvisionen der 1980er-Jahre finden.
Es gibt viel Bewegung in der Kindheit von Theresa (*2014), die mit ihrem älteren Bruder im Wechselmodell die Hälfte der Zeit bei ihrem Papa Christian (*1983), seiner amerikanischen Partnerin und deren gemeinsamer kleiner Tochter lebt. Auch ihre lettische Mutter hat mit ihrem jetzigen Mann, einem Spanier, ein weiteres Kind. Deutlich gleichbleibender verlief Christians Kindheit in Berlin-Buch. Die Leidenschaft für Musik verbindet Tochter und Vater, beide spielen von Klein auf Gitarre.
1983 geboren, war Christian zu jung, um sich bewusst an Tschernobyl zu erinnern, die Wende aber hat er noch in Erinnerung und begreift es als Glück, das er als erster Jahrgang danach eingeschult wurde und so Linkshänder bleiben durfte. In der DDR wäre er auf die rechte Hand umtrainiert worden.
Da seine beiden Eltern Vollzeit arbeiteten, war er bereits mit neun Monaten in der Krippe und die Kindheit über viel in Betreuungseinrichtungen, an die er sich aber gerne erinnert. Dort wie in der Plattenbau-Siedlung gab es immer Spielkamerad:innen und gemeinsame Aktivitäten.
Verabredungen waren verbindlich oder man klingelte die Freund:innen raus, sein erstes Handy hatte Christian erst mit 19, schwer vorstellbar für Theresa. Er findet, verglichen zu ihm wächst sie in einem viel internationaleren Kontext auf.
Mehr getrennte Eltern
Geboren in Kopenhagen, hat Theresa die ersten vier Lebensjahre in Dänemark verbracht, bevor sie und ihr älterer Bruder nach der Trennung der Eltern nach Berlin umzogen, wo sie seither zwischen zwei Wohnungen und wachsenden Familien hin- und herwechseln.
Dieses Patchwork-Konstrukt ist nicht ohne Spannungen, aber für die Zehnjährige Normalität – wie für viele ihrer Klassenkamerad:in- nen. Sie schätzt, die Hälfte hat getrennte Eltern, was in Christians Kindheit eher die Ausnahme war.
Einen Unterschied erkennt er auch darin, wie er Theresas Gitarrenunterricht begleitet, er ermutigt sie dazu, aber sie durfte eine Pause einlegen, bis sie selbst wieder Lust hatte. Der Spaßfaktor zählte früher weniger – seine Eltern legten Wert darauf, dass alle Aufgaben und Übungen erledigt waren, bevor beispielsweise der Fernseher eingeschaltet wurde.
Wegbegleiter:innen
So vertraut wie Vater und Sohn hier wirken, so nah sind Eltern wie Benni (*1978) heute an ihren Kindern und viel mehr in deren Leben eingebunden. Die Herausforderungen, Kinder durch eine digitalisierte Welt zu begleiten, sind gewachsen. Die Kindheit von Enno (*2015) ist anders als die seines Vaters geprägt von Bedürfnisorientierung, Elternengagement und Diversität in allen Bereichen.
Fernseher, Gameboy und Co. waren wichtige Wegbegleiter in Bennis Kindheit, der in einer Kleinstadt im Münsterland an der holländischen Grenze groß wurde. So behütet er ansonsten aufwuchs, erinnert sich Benni nicht daran, dass sein Fernsehverhalten je eingeschränkt worden wäre, weder zeitlich noch inhaltlich.
So war es ganz normal, dass die Nachbarskinder zusammen zigmal „Goldfinger“ schauten, was er aus heutiger Perspektive bedenklich findet. Doch die derzeitige Streamingwelt mit der permanenten Verfügbarkeit nahezu unendlicher Inhalte, stellt Eltern vor nochmal ganz andere Herausforderungen.
Selbst in der Filmbrache arbeitend, will er Enno und dessen älterer Schwester den Zugang dazu nicht ganz verwehren, aber er schaut sich vorher an, was sie sehen wollen und geht oft mit ihnen ins Kino.
Während sein Vater kaum wusste, was er so in Schule und Freizeit trieb, begleitet Benni den Weg seiner Kinder deutlich aktiver. Auch durch die Entscheidung für Elterninitiativkita und freie Schulen, die ganz anders funktionieren als die Bildungseinrichtungen seiner Vergangenheit, ist er viel mehr in ihr Leben eingebunden.
Mehr Nähe
Jennifer ist ebenfalls im Münsterland aufgewachen, im Dorf und in der Schule waren sie und ihre Schwester die einzigen Schwarzen Kinder, das erlebt Annie heute anders.
Als Tochter eines Schwarzen Arztes in einem Dorf im Münsterland aufgewachsen, weiß Jennifer (*1980) sehr zu schätzen, dass sich Annie (*2015) heute in einem diverseren Umfeld bewegen kann. Die Modedesignerin (BLACK WHITE GREY) und ihre Tochter teilen die Freude an Sport, Tanz und Mode, die Jennifer seit ihrer Kindheit wichtig sind.
Von ihren Eltern wurde in Jennifers Kindheit sehr aufs Aussehen und schulische Leistungen geachtet. Das Mantra ihrer Mutter war, dass einem ein akademischer Grad nicht mehr genommen werden kann. Die Sportwissenschaftlerin und Modedesignerin sieht dies heute etwas lockerer, solange ihre Kinder nicht faul sind oder ihre Zeit mit digitalen Medien verdaddeln.
Daher gelten für Annie und ihre ältere Schwester am Handy strikte Zeitlimits. Anfang der 1990er-Jahre hatte Jennifer zwar einen Gameboy, aber nur zwei Spiele, die schnell durchgespielt waren. Sich real mit ihren Freund:innen zu treffen, Basketball zu spielen oder anderen Sport zu treiben, war ihr viel wichtiger.
Ähnlich geht es Annie, die es außerdem super findet, dass sie mit ihrer Mutter das Interesse für Mode teilt. Anders als bei vielen ihrer Freund:innen leben ihre Oma, Tante und Cousinen in direkter Nachbarschaft und spielen eine wichtige Rolle im Familienalltag. Das weiß auch Jennifer sehr zu schätzen.
Erziehungsideale, Elternrollen und Erwartungen im Wandel
Kindheit war schon immer eine Zeit des Entdeckens und Wachsens, deren Rahmenbedingungen sich verändern. Während ihre Eltern mit mehr Bewegungsfreiraum und weniger digitaler Ablenkung aufwuchsen, sind Kinder heute Teil eines stärker durchgeplanten Alltags inmitten einer krisenhaften Welt.
Eine steigende Zahl Kinder und Jugendliche wächst in Patchworkfamilien oder bei Alleinerziehenden auf. Anders als früher sind Großeltern oft weniger im Alltag involviert, während viele Väter präsenter sind als je zuvor.
Der Familienbegriff hat sich verändert, ebenso wie Erziehungsideale, Elternrollen und Erwartungen an Kinder, die mit ihren individuellen Begabungen und Bedürfnissen einerseits ernster genommen werden, andererseits unter größerem Druck stehen.
Doch für unsere Kinder ist das ihre Normalität. Ihre Freiräume und Erfahrungen mögen heute andere sein – Erziehung bleibt ein Balanceakt zwischen Freiheit und Fürsorge.
Die Eltern, die wir getroffen haben, reflektieren diese Herausforderungen, die eigene Kindheit und den Umgang mit ihren Kindern. Mehr Nähe, mehr Miteinander – auf dass sie sich eines Tages an das Gefühl erinnern, geliebt, gesehen, gehört und gefördert worden zu sein.