STADTGESTALTEN Berlin – Veronika Kranzpiller besetzt eine echte Nische: Wo die meisten Museen Kunstvermittlung für hörbehinderte Besucher durch einen Kunsthistoriker und einen Gebärdensprachdolmetscher anbieten, macht die studierte Künstlerin und Gehörlosenpädagogin alles in Personalunion.
Die Berlinerische Galerie in Berlin Kreuzberg. Vor dem Gebäude stehen sechs Sonnenstühle, in denen vier Jungen zwischen neun und elf Jahren, eine Lehrerin und eine Praktikantin sitzen. Ihnen gegenüber steht eine zierliche Frau mit dunklen Haaren und Pferdeschwanz. Die 50-jährige hält Zeige- und Mittelfinger zu einem V hoch und bewegt sie kreisend nach unten. Das heißt „Ich bin Veronika.“ in Gebärdensprache.
Die Schüler und ihre Lehrerin kennen Veronika Kranzpiller schon von früheren Besuchen. Sie kommen von der Ernst-Adolf-Eschke-Schule, einem Sonderpädagogischen Förderzentrum für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche mit einem offen-bilingualen Konzept. Das Museum öffnet die Tür, die Kinder gehen hinein. Vor einer Pressewand bleibt Frau Kranzpiller stehen und erklärt den Kindern, was sie sich jetzt anschauen werden.
Die erste Ausstellung ist von dem österreichischen Künstler Erwin Wurm. Über den Namen müssen alle lachen. Die Arbeiten sind dann der absolute Hit bei den Kindern. Da steht zum Beispiel ein echtes Haus, in das man hinein gehen kann. Aber drinnen stimmt etwas nicht, es ist alles so eng. Nur eine Person passt zurzeit durch den Flur, denn das Haus ist gerade mal 1,10 Meter breit. Bei den Fotografien der Künstlerin Heidi Specker fragt Frau Kranzpiller, ob das Fotos sind oder Malerei. Henry macht die Bewegung, als wenn er fotografieren würde. Nun erläutert sie den Unterschied zwischen analoger und digitaler Fotografie. Frau Kranzpiller zeigt einen Rollfilm und eine Speicherkarte.
Während des gesamten Vormittags sind die Kinder höchst konzentriert, lassen sich viel erklären, können aber auch selber entdecken und sich beim Abzeichnen eines Fotos, später sogar als Fotograf und Model ausprobieren. Die Lehrerin Frau Müller schwärmt von den Führungen: „Frau Kranzpiller geht so toll auf die Kinder ein. Bei klassischen Führungen mit Dolmetschern müssen die Kinder nur aufnehmen. Das ermüdet sie. Bei Frau Kranzpiller gibt es immer einen Wechsel aus Kommunikation und Aktivität.“
Veronika Kranzpiller hat keine hörgeschädigten Verwandten. Zu dem Beruf ist sie gekommen, weil sie lange Zeit Pantomime gespielt hat. Die gestische nonverbale Kommunikation liegt ihr mehr, als die verbale. Nach einem Kunststudium an der Universität der Künste Berlin absolvierte sie noch ein Studium in Gebärdensprachepädagogik an der Humboldt-Universität. „Das eine geht nicht ohne das andere“, sagt Veronika Kranzpiller, die neben ihrer Tätigkeit als Kunstvermittlerin noch immer als freischaffende Künstlerin tätig ist.
In ihrem Atelier zeichnet sie, fotografiert und macht Installationen. 2006 begann Veronika Kranzpiller als Kunstvermittlerin in DGS (Deutsche Gebärdensprache) für hörbehinderte Kinder und Jugendliche zu arbeiten. Jetzt auch für Erwachsene. Vorwiegend in der Berlinerischen Galerie und der Deutsche Bank KunstHalle.
Sehr erfolgreich war ihr Projekt „Berlin Beck Mann Ich“, das sie im Februar 2016 in Zusammenarbeit mit den Kulturprojekten
Berlin begleitend zur Ausstellung „Max Beckmann und Berlin“ in der Berlinerischen Galerie entwickelt hat. Über 40 Jugendliche der Ernst-Adolf-Eschke-Schule arbeiteten zu dem Thema „Selbstportrait in der Malerei“ und malten in mehreren Terminen in ihrem Atelier mit Ölfarbe auf Leinwand Selbstportraits. „Am Anfang konnten sie nicht viel damit anfangen. Nachher waren sie aber ganz engagiert und stolz über die Ergebnisse.“ Auch bei den Lehrern, Eltern und dem Senat kam das Projekt sehr gut an.
Viel Einfühlungsvermögen und Spontanität braucht der Umgang mit den sehr unterschiedlichen Gruppen. Der Bedarf ist da, denn normalerweise müssen sich Hörbehinderte auf drei Punkte gleichzeitig konzentrieren: Das Kunstwerk, den Kunstvermittler und
den Dolmetscher. „Gehörlose möchten aber direkt kommunizieren“, so Veronika Kranzpiller.
Bevor sie sich von ihren heutigen Gästen verabschiedet fragt Veronika Kranzpiller die Schüler, wie ihnen der Vormittag gefallen hat. Sie zeigt den Daumen einmal nach unten, einmal in die Mitte und einmal nach oben. Die Jungen strahlen sie an und zeigen alle mit den Daumen nach oben. „Es ist so eine schöne Arbeit“, sagt sie, als die Kinder gegangen
sind.
Text: Sonja Kloevekorn
Die Ausstellung „ERWIN WURM. BEI MUTTI“ läuft noch bis zum 22.08.2016 in der Berlinischen Galerie.