Wie vor 30 Jahren Kindergeburtstag gefeiert wurde? Mit selbstgebackenem Schokoladenkuchen von Mama und ein paar Freunden im Garten. Dann wurde gespielt, Würstelschnappen, Topfschlagen oder Sackhüpfen. Das reicht heute oft nicht mehr - warum ist das so?
Die zweichfache Mutter und Kommunikationswissenschaftlerin Bianca Kellner-Zotz ist mit ihrem Buch „Das Aufmerksamkeitsregime – Wenn Liebe Zuschauer braucht“ einer spannenden Frage nachgegangen. Was macht die Medialisierung mit dem System Familie. Was passiert mit uns als Familie, wenn jeder Geburstag, jedes Ereignis in den sozialen Medien visuell dokumentiert und inszeniert wird, um es so mit allen Freunden aber auch entfernten Bekannten zu „teilen“? Wir haben mit ihr über ihre Abhandlung gesprochen. Mann kann ihre Antworten nutzen, um die eigene Medien-Nutzung, sowie das eigene Verhalten in gewissen Punkten zu hinterfragen, zu reflektieren. Was ist uns wirklich wichtig und wie aufwendig muss jeder Geburtstag und Co. gefeiert werden?
Bianca, du gehst davon aus, dass Familien heute anders lieben, erziehen oder feiern als vor 40 Jahren, weil sie sich an Massenmedien orientieren. Kannst du uns da Beispiele nennen?
Man kann diese Entwicklung vor allem an der zunehmenden Visualisierung nachzeichnen: Es gibt kaum noch eine Schwangere, die ihren Babybauch nicht fotografieren lässt. Für die Geburt wünschen sie sich dann WLAN im Kreißsaal, um ein Bild des Neugeborenen verschicken zu können. Und Brautpaare wünschen sich 24-Stunden-Fotoreportagen ihrer Hochzeit und zahlen dafür mehrere Tausend Euro. Aber auch die Praktiken haben sich verändert: Vor 40 Jahren war ein Kindergeburtstag kein großes Projekt. Es gab einen Kuchen, Topfschlagen und Würstelschnappen, fertig. Heute werden Motto-Geburtstage gefeiert. Schon die Einladung muss zum Thema passen, ebenso wie der Kuchen und die Dekoration. Viele Eltern planen Ausflüge in den Kletterpark oder buchen eine Agentur, die die Organisation übernimmt. Sie investieren viel Zeit und Geld, damit der Geburtstag einmalig, besonders, aufregend wird. Ich glaube, dass wir diese Logik bzw. die entsprechenden Praktiken aus den Medien übernommen haben. Dort braucht es ein Thema, ein Drehbuch, ein Setting, ein besonderes Event. Nur so bekommt man Zuschauer oder Likes. Ein anderes Beispiel: Früher war der Heiratsantrag eine sehr persönliche Sache. In der Regel waren nur die Partner daran beteiligt, vielleicht noch die engsten Familienmitglieder. Heute muss der Heiratsantrag originell und öffentlich sein, z.B. vor allen Freunden, im Restaurant, während eines Konzerts oder im Baumarkt, Flashmob inklusive. Dann stellt man ein Video von dem Ereignis auf YouTube. Die Paare orientieren sich dabei an Hollywood-Filmen oder prominenten Vorbildern, die sich ständig auf Twitter versichern, wie sehr sie sich lieben. Echte Liebe ist es nur, wenn sie öffentlich gezeigt wird. Gleichzeitig verschaffen wir uns über diese Inszenierungen Aufmerksamkeit.
Wofür braucht Liebe denn Aufmerksamkeit?
Das ist der Punkt: Eigentlich braucht sie die nicht. Aber wir alle sind mit den Massenmedien aufgewachsen, die heutige Eltern-Generation ist die „Fernseh-Generation“. Wir haben gelernt, dass nur die Dinge von Bedeutung sind, die aufregend, besonders, einzigartig sind. Und dass man für solche Inhalte Aufmerksamkeit und Wertschätzung bekommt. Das Internet hat diesen Trend verstärkt. Aufmerksamkeit hat sich zu einem eigenen Wert entwickelt. Anders ist es nicht zu erklären, dass Mütter die Einhorn- oder Barbie-Geburtstagskuchen posten, die sie in stundenlanger Arbeit hergestellt haben. Dazu kommt: Wir haben uns so an die Logik der Medien gewöhnt, dass wir es ganz normal finden, dass z.B. pro Kindergartenjahr 20 verschiedene Veranstaltungen auf der Agenda stehen, vom Trommel- und Buchstabenfest bis zum Ritter-Spektakulum. Dabei stellen die vielen Termine Eltern, Erzieher und Kinder unter gewaltigen Stress.
Du glaubst, dass es vor allem die Mütter Opfer des „Aufmerksamkeitsregimes“ sind. Warum?
Moderne Mütter können es nicht richtig machen. „Nur“ die Kinder zu erziehen, gilt als gestrig und dumm. Wer aber für das Buchstabenfest keinen Kuchen backt, weil er Vollzeit arbeitet, bekommt ebenfalls Kritik.
Mütter müssen – so will es das neue Rollenbild – alles unter einen Hut bringen: Kinder, Job, Beziehung. Dabei sollen sie aussehen wie ein Model und immer gut gelaunt sein. Anerkennung bekommen sie dafür aber nicht, die gibt es nur für die Top-Karriere.
Also integrieren sie die Strategien des Aufmerksamkeitsregimes in ihre alltäglichen Praktiken: posten die selbst gebastelte Schultüte, ändern wöchentlich ihr Familien-Profilbild auf WhatsApp, rennen mit den Kindern vom Musikgarten zum Motto-Schwimmkurs oder in den Kunstworkshop. Dieses Vorgehen hat nicht nur etwas mit Bildungsbemühungen zu tun. Vielmehr ist die gestresste, weil bemühte Mütter, die ihren Nachwuchs von Aktivität zu Aktivität fährt, sichtbar. Sie performt. für das Aufmerksamkeitsregime. Wer dem Kind zu Hause auf dem Sofa vorliest, wird dagegen nicht wahr genommen.
Viele werden sagen, der Stress in den Familien hat eher ökonomische Gründe…
Es fällt uns tatsächlich schwer zu akzeptieren, dass die Medien unsere Art zu denken überformen. Wir glauben zwar, dass unsere Nachbarin sich von „Germany’s Next Topmodel“ zum Hungern anstiften lässt, aber wir können uns nicht vorstellen, dass das auf uns selbst zutrifft und machen uns vor, Frauenzeitschriften nur zum Vergnügen zu lesen. Und natürlich spielt die Ökonomisierung eine Rolle. In Ballungsräumen müssen selbst gut ausgebildete Akademiker-Familien gut haushalten, um über die Runden zu kommen. Aber diese Mittelschichtfamilien sind es auch, die die Medialisierung vorantreiben, indem sie ein immer ausgefalleneres Freizeitprogramm absolvieren und allen Bekannten via WhatsApp ganze Fotoalben aus dem Australien-Urlaub schicken.
An sich ist es aber doch nicht verwerflich, seinem Kind einen schönen Geburtstag bereiten zu wollen oder Freunden zu zeigen, dass man die freien Tage genießt?
Nein, natürlich nicht. Die Familie ist deshalb nicht vom Untergang bedroht. Das Problem ist, dass es innerhalb der Familie zu einer Verschiebung von Werten kommt. Das Private, Intime verliert zugunsten einer öffentlich inszenierbaren Form von Liebe an Bedeutung.
Diese demonstrative Art, Familie zu leben, setzt Familien unter Stress, kostet Zeit und Geld, erfordert ständig neue Investitionen und befördert den interfamiliären Wettbewerb. Dabei sollten wir die kostbare gemeinsame Zeit lieber dafür nutzen, einander in Ruhe zuzuhören oder ein Brettspiel zu spielen. Hasbro hat eine Kurzversion von Monopoly auf den Markt gebracht, weil sich Familien nicht mehr die Zeit nehmen, länger als 20 Minuten zu spielen. Im Vergleich dazu verbringen sie viel Zeit mit Postings oder der Organisation von Events. Das kann nicht gesund sein, denn die Familie ist der letzte Rückzugsraum in dieser Gesellschaft.
Bianca, was würdest du Familien raten, um dem „Aufmerksamkeitsregime“ zu entkommen?
Mir hat die Arbeit an meinem Buch geholfen, meine Verhaltensweisen zu hinterfragen. Seitdem mir klar ist, wie viel man für den Applaus des Umfeldes tut, habe ich einiges verändert. Früher habe ich passende Einladungskarten für den Kindergeburtstag gekauft oder selbst gestaltet – jetzt schreiben meine Kinder ihre Einladungen selbst, und zwar auf Öko-Papier. Ich habe kein Profilbild auf WhatsApp und würde niemals Fotos meiner Kinders posten, Facebook boykottiere ich sowieso. Ich mache einen großen Bogen um Kinderhotels. Denn deren Spaßfeuerwerk brauchen meine Kinder nicht, die wollen einfach Zeit mit uns verbringen, Karten spielen, spazieren gehen. Generell finde ich es hochkritisch, dass wir es nicht mehr zulassen, dass unsere Kinder eigene Spielideen entwickeln, stattdessen karren wir sie von Kurs zu Kurs, verknappen den Alltag, wo es nur geht. Sogar in den Ferien folgt ein Programmpunkt dem nächsten. Die Eigentätigkeit, die intrinsische Motivation, geht dadurch total verloren. Gleichzeitig sinken die Aufmerksamkeitsspannen, Erzieher und Lehrer können ein Lied davon singen. Wir müssen aufhören, unser Leben wie einen Videoclip zu choreografieren, alle fünf Sekunden ein Szenenwechsel. Das überfordert uns und unsere Kinder.
Wir bedanken uns bei Bianca für das Interview.
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