Weltliteratur to go

Michael Sommer poliert für junge Menschen das verstaubte Image von Literaturklassikern auf, indem er sie in eine Welt aus Playmobil einbettet.

Damen in ausgestellten Rokokokleidern und Herren in edlen Gehröcken made by Playmobil erscheinen auf der Bildfläche. Schauplatz ist nicht der Boden eines Kinderzimmers, sondern der weiße Küchentisch von Michael Sommer, 39 Jahre, Literaturwissenschaftler und Theaterdramaturg seines Zeichens. Er dient als Bühne für seine Reihe „Weltliteratur to go“, auf der er heute mithilfe der Kunststofffiguren Adelbert von Chamissos Werk „Peter Schlemihls wundersame Geschichten“ verfilmt, um es anschließend auf Youtube hochzuladen.

Das Ganze soll ein Köder für junge Leute sein, denen der rechte Zugang zu den „alten Schinken“ fehlt. Die Idee ist so einfach wie genial und wurde bereits 2013 geboren. Damals sah sich der Dramaturg am Theater Ulm mit der Aufgabe konfrontiert, eine Einführungsveranstaltung für die Produktion „Dantons Tod“ zu machen. Weil sich sein Kollege aus der Regie aber dazu entschloss, bei der Inszenierung nicht Handlungen sondern Zitate in den Vordergrund zu stellen, war Sommers Einfallsreichtum gefragt.

Um dem Publikum zu zeigen, was im Stück passiert, behalf er sich kurzerhand mit Playmobilfiguren. Den Mitschnitt stellte er auf Youtube, wo er einige tausend Klicks verbuchte. Ein Aha-Erlebnis für den Literaturfreund! Ihm wurde klar: „Es besteht ein Bedarf an erster Hilfe zum Thema literarische Werke“. Und deshalb nutzt der mittlerweile in München lebende gebürtige Kassler seine Selbstständigkeit seit Anfang 2015 dazu, das Wesentliche ausgewählter Weltliteratur einmal wöchentlich in zehnminütigen Clips zum Besten zu geben.

Die nur ein paar Zentimeter großen Plastikschauspieler, die es heute vor die Linse geschafft haben, entstammen einer Sammlung, bei deren Anblick wohl so manches Kind vor Neid erblassen dürfte. Mit rund 400 Figuren und jeder Menge Requisiten ist sein Bestand bis dato ziemlich angeschwollen. Teilweise handelt es sich um echte Sammlerstücke, die er auf Messen, bei Ebay oder im Playmobilfunstore erspäht hat. Insbesondere historische Kostüme des ausgehenden 19. und angehenden 20. Jahrhunderts seien nicht leicht und wenn nur für viel Geld zu ergattern, berichtet Sommer. „Es ist ein freundlicher Zufall, dass ich einen Freund habe, der schon ewig Playmobil sammelt und mir bereits einige Male etwas leihen konnte.“

„Ein zehnminütiges Video kann selbstverständlich kein literarisches Werk ersetzen“, betont der Theaterprofi. Er versteht das Projekt vielmehr als „Einstiegsdroge“. Es sei eine Herangehensweise, Lust zu machen, sich die alten Geschichten anzuhören. In seinen Augen ist Literatur nichts Heiliges. Sie lebe nur dann, wenn man ihr in einem spielerischen Umgang Raum gebe. Das Playmobilspiel ist dafür ein gutes Mittel zum Zweck, setzt aber auch Grenzen: Es gehe in diesem Format darum, Figuren und Handlung eines Werkes wiederzugeben, erklärt er. Die Sprache und der Erzählgestus könnten allerhöchstens angerissen werden.

„Boah, bin ich gepisst. Dann schreibe ich jetzt ein Märchen“, sagt eine Chamisso darstellende Playmobilfigur, um die Geschichte zu Beginn des Clips einzuleiten. Hat sich der junge Autor von „Peter Schlemihls wundersame Geschichten“ doch ganz der Literatur verschrieben, weil er als gebürtiger Franzose zu seinem Leidwesen nicht am Befreiungskrieg gegen Napoleon teilnehmen durfte. Die Lässigkeit in der Sprache ist von Sommer ganz bewusst gewählt, um junge Leute dort abzuholen, wo sie sind: in ihrer Welt.

Von Januar 2015 bis heute haben 1,2 Millionen Menschen seine Videos geschaut. Außerdem kann er mittlerweile 15.000 Abonnenten verzeichnen. Die am meisten gesehenen Videos sind die großen Klassiker wie „Faust“, „Die Leiden des jungen Werthers“ und „Kabale und Liebe“ mit annähernd 100.000 Klicks pro Video. Auch wenn Topclips bei Youtube für gewöhnlich in die Millionenhöhen schnellen, ist Sommer stolz auf seine Zahlen. „Für ein kulturelles Thema und verglichen mit den Leuten, die ins Theater gehen, ist das schon relativ viel“, betonet er.

Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen: Wie entstehen die Kurzfilme? Um das ausgewählte Werk frisch in Erinnerung zu haben, liest er es zunächst und fasst die zentralen Szenen anschließend in einem Skript zusammen, das er sich für den Dreh aneignet. Zwischen vier bis acht Durchgänge sind vonnöten, bis alles zufriedenstellend im Kasten ist. Für die Bühnenbilder durchforstet er das Web nach lizenzfreien Fotos, die er teilweise mit Photoshop bearbeitet, bevor er sie auf ein Prisma anbringt – ein Format, das sich für den schnellen Szenenwechsel bisher am meisten bewährt hat. Sind alle Figuren und Requisiten ausgewählt, heißt es: Kamera ab.

Mitte letzten Jahres kam es zu einer befruchtenden Zusammenarbeit, denn da holte Sommer den Reclam Verlag ins Boot. „Das ist eine große Unterstützung, ansonsten ist man doch sehr einsam, wenn man das am Küchentisch produziert“, sagt er. In der Institution für deutschsprachige Klassiker werden seine Clips lektoriert und es gibt Absprachen bezüglich der Auswahl. So sind es die Verkaufscharts von Reclam, Abiturstoffe, aber auch Umfragen, in denen nach dem Kanon der Weltliteratur gefragt wird, die sein Programm bestimmen.„Ich lasse mich als Dramaturg aber auch von meinem Rhythmusgefühl leiten und versuche die Epochen und Genres abzuwechseln“, erzählt er.

Bedeutende Lektüren in heutige mediale Formen zu transferieren, ist zu Sommers absolutem Steckenpferd geworden. Bereits am Theater in Ulm stellte er ein Livestreamingprojekt auf die Beine. Playmobil einzusetzen, sei viel Imagewerbung für Literatur, meint er. Assoziierten es die meisten Leute doch mit etwas Positivem, mit Spielen, Kindheit und mit Freiheit der Fantasie.

Text: Claudia Jung

Die Clips sind abrufbar unter: www.youtube.com/user/mwstubes

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