Am 20. Juni ist Weltflüchtlingstag, anlässlich dessen wir euch auf das Projekt unserer lieben Gastautorin Sandy aufmerksam möchten. Fast seit Beginn des Krieges in der Ukraine zeichnet Sandy Woche für Woche die Geschichten geflüchteter Frauen auf und schafft so eine Collage ihrer Erfahrungen, Sorgen, Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche.
Als ich Anfang März innerhalb einer Woche die Website für den Blog „Frauen auf der Flucht“ und die dazugehörigen Social-Media-Kanäle aufsetzte, war mir nicht bewusst, was das Projekt auslösen würde – wie viele Frauen ich aus der Ukraine treffen, mit wie vielen Menschen ich mich vernetzen weltweit und letztlich auch alle zusammenbringen würde können, um zu helfen.
Mein Vorhaben, Frauen aus der Ukraine aufgrund der aktuellen Geschehnisse zu portraitieren, entsprang dem unmittelbaren Drang, auf meine Art als Journalistin, Frau und Mutter zu helfen. Und da lag es nahe das zu tun, was ich am besten kann, Menschen zuhören und ihre Geschichten aufschreiben.
„Du schreibst nicht nur Geschichten, du schreibst Geschichte.“
Tania Hubrii aus Kiew im Interview zu Sandy
Seitdem ist pro Woche, die der Krieg in der Ukraine nun andauert, je eine Story entstanden -individuell und mutig, in ihrer Vielfältigkeit überraschend. Ich hatte anfangs nicht bedacht, dass die unterschiedliche Muttersprache uns Barrieren sein würden – spreche ich doch kein Wort Ukrainisch oder Russisch – sich gleichermaßen als verbindendes Element herausstellen könnten, weil Freund:innen, Fremde und Familienmitglieder sich als begeisterte Laienübersetzer:innen zur Verfügung stellen würden.
Ich habe mich in sehr intimen Momenten wieder gefunden, Frauen aus Trauer und Freude gleichermaßen weinen sehen. Ich habe stillende Mütter per Zoom gesprochen und Studierenden nebenbei den Berliner Busfahrplan erklärt. Ich habe viel über die ukrainische Kultur gelernt, Liebesgeschichten erzählt bekommen und eine Frau in Lübeck getroffen, die ihre siebenjährige Tochter zurückließ.
Ich werte nicht und habe auch keinerlei Anspruch auf Neutralität. Die Geschichten sind höchst subjektiv, nur indirekt politisch, dabei sie verdeutlichen sie, wie Frauen mit sich im Inneren kämpfen und dieser Grenzerfahrung im Außen umgehen. Mir war auch anfänglich nicht bewusst, wo diese Frauen sich aufhalten würden, dass ich Menschen treffen würde, die es in alle Winde verstreut hat – von einer Künstlerin auf den Azoren bis zu einer Ballerina, die in New York City „gestrandet“ ist …
Noch mehr überrascht als ich über die geschilderten Erlebnisse, sind dabei die Frauen selbst. Nicht, weil sie sich unfreiwillig in einer Umbruchphase ihres Lebens wiederfinden, mit unbekanntem Ausgang. Vielmehr sind sie überrascht, dass sie überhaupt jemand nach ihren Erfahrungen fragt, die sie gar nicht der Rede wert finden. „Ich war nicht in Butcha, ist meine Geschichte es dennoch wert, erzählt zu werden?“ fragte mich Irene Zh., die eine Odysse auf sich genommen hat, um ihre Katze Chicksa aus der Ukraine zu schleusen.
Oftmals schämen sich Frauen, die Ukraine, also ihre Heimat und Männer, Eltern oder Freunde zurückgelassen zu haben. So traf ich eine Mutter, die sich die langen Haare abschnitten, als Akt der Erlösung, nun in Polen in Sicherheit zu sein. Ich sprach mit einer Mutter via Zoom in Kiev, die dorthin als Volontärin zurückgekehrt war, um bei Aufräumarbeiten zu helfen – ihre Kinder hatte sie derweil Italien gelassen.
Die Frauen sind oftmals getrieben, so auch Tetjana in Amsterdam, die unermüdlich für jeden Kriegstag in der Ukraine einen Halbmarathon läuft, um Spenden zu sammeln. Sie sehen sich selbst selten nicht als „Flüchtlinge“, wie eine Rückmeldung auf Instagram von Krystina verdeutlicht: „Als Sandy mich für ein Interview anfragte, war ich sauer, dann traurig und habe erst dann akzeptiert, dass ich eine Frau auf der Flucht bin …“
Es sind scheinbare Banalitäten, die diese Geschichten so unverwechselbar machen. Wenn mir Oxana erzählt, sie habe in der Eile der Flucht an alles gedacht, nur ihre Brille vergessen, wenn Taniia erzählt, sie habe vor der Flucht in einem plötzlichen Anfall von Putzwut das Geschirr vier Mal von Hand gespült, da bei Rückkehr alles sauber sein sollte und die Tatsache, dass Hanna mir kopfschüttelnd erzählt, wie sie sich den Jeep vom Vater zur Flucht lieh, da ihr e-Auto sich nicht für Langstrecken eigne.
Es sind die Kleinigkeiten, die verblüffen. Und so sagte Taniia in einem Gespräch zu mir: „Du schreibst nicht nur Geschichten, du schreibst Geschichte.“
Die Geschichten der hier erwähnten Frauen und viele weitere findet ihr unter frauenaufderflucht.de, mehr zum Weltflüchtligstag am 20. Juni: unhcr.org
Sandy hat schon einige Artikel für uns geschrieben, ihr findet sie unter ihrem Gastautorinnenprofil: Sandy Bossier-Steuerwald
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